Auf Schwingen um die Welt. Die globale Odyssee der Zugvögel

Der Ornithologe Scott Weidensaul (*1959) lebt in Pennsylvania und forscht hauptsächlich über Zugvögel. Sein Buch Living on the Wind: Across the Hemisphere with Migratory Birds wurde 2000 für den Pulitzerpreis nominiert.

Von Alaska bis nach Neuseeland, von Australien bis zur Gelben See, vom Mackenzie River in Nordkanada zur Nordostküste von Brasilien, von der Hudson Bay in die Karibik, aus den Michiganwäldern zu den Bahamas: So sehen Flugrouten von Zugvögeln aus, von den Brutgebieten in die Winterquartiere und zurück. Um welche Vogelarten es sich handelt, wie gross die Schwärme sind, mit welchen Strategien die Tiere die gewaltigen Strecken meistern, welche Hindernisse und Gefahren sie überwinden müssen, und wie überhaupt diese ungeheure Datenmenge gesammelt wurde und wird – dies alles ist, grob umrissen, der Inhalt des Buches.

Das anschaulich geschriebene Buch hat mir zwei wichtige Erkenntnisse vermittelt. Erstens: Die rapide Verbesserung der technischen Mittel erlaubt es der Forschung heute, die Routen dank Sendern, die kleiner als ein Reiskorn sind und leichter als ein Gramm, genau zu erfassen. Zweitens: Diese präzisen Kenntnisse erlauben es, in den Überwinterungsgebieten zielgerichtet Schutzmassnahmen zu ergreifen, was früher nicht so leicht möglich war. Als Beispiel seien die Michiganwaldsänger angeführt, deren Brut- und Überwinterungsquartiere sehr eingeschränkt sind. Sie haben keine Ausweichmöglichkeit, wenn die Bedingungen örtlich prekär werden. Gleichzeitig erlaubt dieser Umstand den Forschern, „einen einzelnen Vogel an beiden Enden seiner Wanderung wiederzufinden“ (S. 189). Werden die Bedingungen im Überwinterungsgebiet prekär (z.B. immer wärmer und trockener), so können vor Ort zielgerichtete Massnahmen ergriffen werden. Im Fall der nahezu ausgestorbenen Michiganwaldsänger führte dies zum Erfolg.

In 10 Kapiteln berichtet Weidensaul über seine weltweiten, teilweise strapaziösen Reisen: Wie er mit Ornithologinnen und passionierten Laien in mühsamer, manchmal auch gefährlicher (Grizzlybären!) Kleinarbeit Vögel beobachtet, zählt, fängt, beringt, mit Geolokatoren oder GPS-Sendern versieht – und sie hinterher natürlich wieder freilässt.

Die erste Reise, die der Autor schildert, führt nach China, an die Küste der Gelben See in der Provinz Jiangsu. Der Darstellung der Umwelt – Industrielandschaften, Plastikmüll etc. – steht eine beinahe poetische Beschreibung der zu Tausenden versammelten Strandläufer gegenüber: „Sie bildeten Schichten, spalteten sich zu Reihen auf und flossen in verschiedenen kleinen Strömen zu grossen Flüssen aus Flügeln zusammen.“

Das 6. Kapitel ist dem „zerrissenen Kalender“ gewidmet. Der Klimawandel verändert den Ablauf der Jahreszeiten. Das kann dazu führen, dass rückkehrende Zugvögel erst im Brutgebiet eintreffen, wenn dort der Höhepunkt des Insektenbestandes bereits überschritten ist, sodass sie nicht genügend Nahrung für sich und den Nachwuchs finden. Oder auch dazu, dass sie nicht mehr mit dem Rückenwind für ihre Flüge rechnen können. Weidensaul führt viele spannende Beispiele an.

Kurios mutet an, wenn gewisse Vögel vorbereitend für ihre Reise, die über Tausende von Kilometern führt, so viel Gewicht anfressen, dass sie „nach allen Massstäben“ stark übergewichtig sind („ihr Blut ähnelt in seiner chemischen Zusammensetzung zu solchen Zeiten dem von Diabetikern und Herzpatienten – aber es schadet ihnen nicht“). Andere wiederum nutzen die Aufwinde so optimal, dass sie fast keine Energie brauchen; das Schlafbedürfnis wird durch einäugigen, abwechselnden Sekundenschlaf ohne Unterbrechung des Fluges gestillt. Weidensaul berichtet anschaulich über Dürreperioden in der Sahelzone, über Leimruten, eine Fangmethode für die Herstellung von angeblichen Delikatessen, und über Massenabschüsse in Ländern des Mittelmeerraumes. All dies setzt, neben der Umweltproblematik, den Vogelbeständen enorm zu. Der Autor schildert dies anschaulich und ergreifend.

Das letzte Kapitel stimmt optimistischer: Die Regierung des  Gliedstaates Nagaland im Nordosten Indiens, vom Autor über hochgefährliche Autostrassen erreicht, hat den Fang von Tausenden von Amurfalken erfolgreich unterbunden. Nebenbei angemerkt: Die Bevölkerung war wegen der für den Bau eines Staudammes überfluteten Felder dermassen verarmt, dass der Verkauf von Falkenbraten einen willkommenen finanziellen Zustupf bedeutete.

Das überaus lesenswerte, mit vielen interessanten Details gespickte und mit Karten sowie Fotos angereicherte Buch macht das immense Ausmass an Umweltzerstörung und Vogel-Massentötungen klar. Aus persönlicher Sicht ein leises Bedauern: Wäre es nicht – mal abgesehen von Flugscham – bereichernder, selber in Vogelzuggebiete zu reisen, statt all diese spannenden Phänomene nur als papierenes „Erlebnis“ zu erfahren? Dies als Hinweis für jüngere Leserinnen und Leser, die für solche Reisen noch fit sind.

 

-Colette Müller-Siemens

Scott Weidensaul: Auf Schwingen um die Welt. Die globale Odyssee der Zugvögel.
München: Carl Hanser Verlag (hanserblau), 2022. 400 Seiten.

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