Prägung

Das Wort prägen bezeichnet meistens im weitesten Sinn die reliefartige Verformung einer Oberfläche - wie zum Beispiel im Ausdruck eine Münze prägen. Bei der Münzprägung wird eine Seite eines Münzrohlings mithilfe eines Stempels in die gewünschte Form gepresst. Nebst Münzen können auch Menschen geprägt sein. Eine Kindheit, eine schlechte Erinnerung, ein Sprachaufenthalt in Nicaragua prägen. Die Bedeutung des Wortes verschiebt sich, metaphorisch aber wird weiterhin ein Relief erzeugt: Das Leben drückt den Menschen einen Stempel auf, es kerbt ihre Erfahrung ein, sodass ihr Sein und ihr Handeln nachhaltig verändert werden. Es entsteht ein Relief der Eindrücke, dessen Oberfläche die Einzigartigkeit jedes Individuums ausmacht.

Über dieses Thema - die Prägung - schreibt Christian Dittloff in seinem neusten, im Frühjahr 2023 erschienenen Werk. Er tastet behutsam seine Erinnerung ab, und versucht mit aufmerksamen Fingern dem Relief seiner Prägungen entlangzufahren. Dies tut er, um über seine Männlichkeit zu reflektieren. Er fragt sich, was und wer ihn beeinflusst hat, um zu rekonstruieren, wie er zu dem Mann wurde, der er heute ist. Er schreibt hierzu über seinen Schreibprozess, dass, wenn er über seine Vergangenheit nachdenke, es etwas in ihm aufstosse, das ein Meer sei: "Ich bin hinausgetrieben und finde das Ufer nicht. Mein Inneres ist wellend in Bewegung und tief." Und so treibt der Autor von Kapitel zu Kapitel umher und beschreibt in Wellen seine Erinnerungen. Die Reliefs seiner Prägung übersetzt Dittloff in Worte, um sie zu fassen und um ihnen eine Bedeutung zu geben - denn: "Sprache macht[...] die Bedrohung endlich", so der Autor.

Die Bedrohung: Patriarchale Strukturen. Dittloff möchte sie sichtbar machen, indem er seine Erinnerungen aufarbeitet, sie freilegt, um anhand seiner Männlichkeitserfahrungen exemplarisch aufzuzeigen, wie eng verknüpft das eigene Handeln mit der strukturellen Prägung wirklich ist. Hierfür reist er zurück in seine Kindheit, seine Jugend, seine Jahre als junger Erwachsener, nur um immer wieder von neuem zu erkennen: Die patriarchale Prägung scheint tief ins Bewusstsein eingebettet zu sein, denn selbst er, als Mann, der sich seiner Prägung überaus bewusst ist, fällt in strukturelle Muster zurück.

Dittlof schreibt zu Beginn von Prägung: "Mich interessiert [...] die sexistische Prägung aller Männer, ich möchte dort hinschauen, wo sie sich weniger eindeutig zeigt als in Muskeln, Waffen und demonstrativer Dominanz, mich interessiert ihre Ambivalenz." Diesem Interesse wird der Autor jedoch nicht gerecht, die Prägung aller Männer wird von ihm nicht untersucht, vielmehr zeigt sich das Werk als Spurensuche der eigenen Biografie. Die Biografie eines Mannes, der normativer nicht sein könnte: männlich, weiss, hetero. Und obschon er einer überrepräsentierten Gruppe angehört: Seine Reflexionen über patriarchale Strukturen vermögen es, einen neuen diskursiven Bogen zu spannen, weil er behutsam vorgeht, der Erinnerung Raum gibt, sie kehrt und wendet, um sie zu verorten - an einem Ort, wo es möglich ist, Kritik zu äussern, auch an sich selbst.

Prägung ist ein Buch, dass offen zu seinen Leser:innen spricht. Aus den unzähligen Gesprächen, die Dittloff in seinem Werk wiedergibt, entspringen immer wieder Erzählungen von sexualisierter Gewalt. Es sind Erzählungen, die bei der Lektüre schmerzen. Schmerzliche Erinnerungen, an die Kabine beim Sport, an die coolen Jungs, ans Klassenzimmer. Dittloffs Jugend ist geprägt von sexualisierten Gewalterfahrungen, die er quasi immer als Unbeteiligter aus der Ferne wahrnimmt - und nichts dagegen unternimmt. Er schaut tatenlos zu, obschon er dieses Verhalten bereits damals verurteilte. Schliesslich kommt er zur Erkenntnis, nach all den Jahren: "Ich profitierte von der Gewalt der anderen, indem ich vorgab - und zumindest im Stillen kommunizierte -, eine andere Art Junge zu sein." Doch er war es nicht. Er ist wie jeder Mann ein Teil des Patriarchats.

Das Wort "Patriarchat", so erkennt Dittloff, war in seiner Jugend nie Bestandteil seines Sprach- und Gedankenrepertoires. Das Wort fiel in der Familie nie und damals, in den Neunziger- und Zweitausenderjahren, auch nicht in der Schule. Das System, dessen Namen viele jungen Männer meist nur selten hören, begünstigt die Freiheit ihres Mannseins stark. Es ermöglicht ihnen, Grenzen zu überschreiten: Ein Recht, das vor allem Männer besitzen. Dittloff zitiert hierzu die Schriftsteller:in bell hooks: "Das Konzept ein Mann zu sein beinhaltet schon immer, dass Männer gegebenenfalls mit ihrem Handeln gegen die Regeln verstoßen können und damit über dem Gesetz stehen. Im Patriarchat wird uns tagtäglich durch Filme, Fernsehen und Zeitschriften vermittelt, dass mächtige Männer das tun können, was immer sie wollen, denn gerade diese Freiheit mache sie zu Männern." Männliches Verhalten konstituiere sich unter anderem an der Grenzüberschreitung, liesse sich schlussfolgern. Eine Grenzüberschreitung, deren gewaltvolles Potential anderen Geschlechtern Leid zufügen kann.

Männlichkeit hat viele Formen. Im Text geht es Dittloff viel weniger darum, zu zeigen, als was Männlichkeit angesehen werden, oder was sie sein könnte. Vielmehr geht es ihm um die negativen Auswirkungen der patriarchalen Prägung. Eine davon: die Maske. Dittloff erkennt die Maske als häufig verwendete Metapher für Männlichkeit. "Hinter der Maske steckt das wahre Gefühl. Männlichkeit ist fassadär, demonstrierte Stärke, versteckt Schwäche." Männer sind oftmals nicht in der Lage, ihre Gefühle zu kommunizieren, ganz gemäss der Boys-don't-Cry-Logik. Als Mann soll man nicht weinen, keinen Schmerz zeigen, Traurigkeit unterdrücken. Dieses Leugnen führt zu Verhärtung - und die Verhärtung zur Bewahrung des Patriarchats, denn nur wer stark zu sein scheint, kann seine Macht aufrechterhalten. Gleichzeitig ist dieses künstliche Aufbauen einer vermeintlich starken Männlichkeit die Schwäche des Mannes, wie Hermann Hesse in einem von Dittloff zitierten Gedicht erkennt: "Das ist mein Leid, daß ich in allzuvielen / bemalten Masken allzugut zu spielen und mich und andre allzugut zu täuschen lernte." Wie Hesse erkennt: Männer täuschen nicht nur die andern, sondern sich selbst gleich mit, ohne zu wissen, welcher Mann sie unter der Maske wirklich sein möchten.

Aber, welcher Mann möchten sie denn wirklich sein? Wo sollen sie sich orientieren, gerade als junge Männer? Sich Vorbilder nehmen ist - gegensätzlich zur grammatisch aktiven Form des Verbs - meist ein passiver Vorgang. Dittloff erklärt, dass es im ersten Drittel des Lebens eine weiche Zeit gebe, eine Zeit, in der man besonders intensiv geprägt wird. Die Humanentwicklung der frühen Jahre ist ein "komplexe[s] Zusammenwirken von Anlage und Umwelt." Doch das Besondere am Menschen - im Gegensatz zu vielen Tieren - ist, dass eine Prägung nicht irreversibel ist. Ein erlerntes Verhalten kann überschrieben, also neu geprägt, werden.

Die Vorbilder von damals sind es heute womöglich nicht mehr, und doch begleiten sie viele, wenn auch unterbewusst, bis ins Erwachsenenalter. Für Dittloff waren es Michael Jordan, Mitschüler oder sein Vater. Männer, die prägen. Männer, die ein Verhalten verkörpern, das Dittloff imitierte und imitieren wollte, um selbst ein Mann zu werden. Männer, die vielleicht nicht immer das Richtige taten. Männer, die sich womöglich hinter ihren Masken versteckten, um ihr Gesicht zu wahren. Boys will be boys.

Im Schreiben über seine Männlichkeit ordnet Dittloff seine Erinnerung neu, er schreibt sie um, damit er eine neue Geschichte seines Ichs für die Zukunft finden kann. Er spricht über Paul Ricœur, einen französischen Philosophen, und dessen Konzept der narrativen Identität: "Das Subjekt ist nichts ursprünglich Gegebenes, sondern eine Aufgabe des Seins. Es konstituiert sich erst durch Sprache, geht dieser nicht voraus. Es ist nicht der Ausgangspunkt der Reflexion, sondern deren Ergebnis." Das Selbst, also das ich, zeichnet sich durch seine Vielseitigkeit aus, denn es kann sich in Erzählungen in verschiedenen Rollen verstehen. Eine Leistung von Narration ist es, so Dittloff, Geschichten auf eine innere Einheit hin zu deuten: "Identität ist Haltung und Handlung." Erzählen kann dementsprechend eine Identitätsprüfung sein, denn a priori existiert Identität nicht. Die Sprache, die Form, welche wir unserer Erinnerung geben, konstituiert sie erst. Im Fall von Prägung gelingt die Identitätsprüfung, da sie zu einer kritischen Hinterfragung der Vergangenheit des Autors führt, die durchs Benennen, durchs Bezeichnen, und durchs metaphorische Abtasten der Prägung eine Form erhält.   

"Wann endet die Prägung, und wo beginnt die Verantwortung?", fragt Dittloff. Eine komplexe Frage. Eine Frage, auf welche selbst das Buch keine Antwort findet. In einem Zitat von bell hooks, das der Autor nennt, wird das Kritiküben zu einer Form der Verantwortung: "Die Fähigkeit, selbst Kritik zu üben und sich zu verändern sowie Kritik von anderen anzunehmen, ist der Zustand, der uns befähigt, Verantwortung zu übernehmen." Ein Mann allein kann das Patriarchat nicht auflösen, er kann es nicht verändern, und er kann seine Prägung nicht einfach so überschreiben. Männlichkeit kennt keine Definition an sich, ist ein Konstrukt, das geschichtlich und soziokulturell geformt wurde, und ist dadurch wandelbar. Die Männer von heute können es jedoch mitformen. Sie können Verantwortung übernehmen. Für ihr eigenes Handeln. Für ihre Zukunft. Für ihre Söhne und Enkel, für ihre Brüder, für ihre Cousins und ihre Neffen.

Prägung ist eine Sammlung von Erfahrungsberichten aus Dittloffs Leben, die es durchaus wert sind, gelesen zu werden. Gleichzeitig ist Prägung ein Mahnmal, das daran erinnert, hinzusehen und zu handeln. Es reiht sich nebst vielen Werken ein, die momentan erscheinen, die alle einen kleinen, aber wichtigen Beitrag zur Neuschreibung einer Männlichkeits-Geschichte bereitstellen. Der Autor scheitert einzig beim Anspruch, die Prägung aller Männer einzufangen, da die Prägungen immer einzigartig sind und sich nicht aus den Erzählungen seiner eigenen Erfahrungen ableiten lassen. Von Prägung im Singular zu sprechen, macht bei Dittloffs Anspruch ohnehin wenig Sinn. Dasselbe gilt für Männlichkeit, denn die Einzahl suggeriert, dass es lediglich die eine Form gebe. Dabei ist Geschlecht ein wandelbares, facettenreiches Konstrukt, das ohne absolute Wahrheit auskommt, denn wir legen es - ganz nach Judith Butler - in jeder Handlung neu aus, und reproduzieren es. Schliesslich bestimmen wir selbst darüber, wer wir heute sein wollen, und wie wir die Männer von morgen bewusst positiv prägen können, um das Patriarchat zu dekonstruieren.  

Rezension von Jonas Rippstein

Christian Dittloff: Prägung. Nachenken über Männlichkeit.

Berliner Wissenschaftsverlag, 2023.

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