«Danke, Schweiz, dass du mich kaputtgemacht hast...»

Michael Herzigs Buch «Landstrassenkind» erzählt die Geschichte von Mariella und Christian Mehr. 

Eine Rezension von Johannes Gruber

1926 gründete die Stiftung Pro Juventute das Hilfswerk «Kinder der Landstrasse». Über Jahrzehnte hinweg, bis in die 1970er Jahre, war dieses Teil einer Politik, die Fahrende gewaltvoll assimilieren wollte: durch Kindswegnahme, Versorgung und Zwangsbehandlung. Wie ihrer jenischen Mutter wurde auch der späteren Schriftstellerin Mariella Mehr ihr Kind weggenommen. Michael Herzigs Buch «Landstrassenkind» ist eine Collage, in der Berichte des Sohns Christian Mehr einer objektivierenden Darstellung seiner eigenen (Familien-)Geschichte gegenübergestellt werden – gerahmt durch zeit- und sozialgeschichtliche Ausführungen.

Es ist ein Buch, das schockiert. Ein Buch, in dem menschenverachtende Praktiken aus der Mitte der Schweizer Gesellschaft aufgezeigt werden. Der Umgang mit Fahrenden war geprägt von rassistischem Gedankengut in der Tradition Auguste Forels, einem Pionier der eugenischen Psychiatrie im 19. Jahrhhundert. Im Unterschied zum nationalsozialistischen Deutschland war in der Schweiz nicht die physische Vernichtung das Ziel, sondern die Umerziehung und das Sesshaftwerden. Als Mittel dienten dem Projekt «Kinder der Landstrasse» Arbeit und Psychiatrisierung. Psychiatrische Kliniken und Fürsorgeämter bestimmten das Schicksal ihrer Schutzbefohlenen: «Zu ihrem Repertoire zählten Vormundschaften und damit einhergehende Eheverbote, administrative Versorgung und Zwangseinweisungen ohne Gerichtsbeschluss, Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation oder Kastration.» (S. 40). 

Schwer erträglich zu lesen sind die Darstellungen, wie die minderjährige, schwangere Mariella ins Gefängnis eingewiesen wurde, wie Versuche des Vaters, sich um Mutter und Kind zu kümmern, von der Sozialbürokratie systematisch abgeblockt wurden und wie Christian als Kind bei einer Pflegefamilie in brühend heissem Badewasser Verbrennungen 2. und 3. Grades erlitt, deren Narben für immer blieben. 

Nachdem Pro Juventute das Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» im Frühjahr 1973 aufgelöst hatte, gelang es Mariella Mehr, ihr Kind zu sich zu holen. Doch die Mutter war überfordert, Christian bereits schwer traumatisiert. Das Zusammenleben scheiterte. Christian wurde heroinabhängig. Er brauchte Jahre, um zu begreifen, was mit ihm, mit seiner Familie los ist, was ihnen angetan wurde. Seine Texte im Buch sind Ausdruck des Versuchs, damit klarzukommen: «Meine Mutter ist jenisch, mein Vater Rom. Meine Grossmutter war eines der ersten Kinder, das die Stiftung Pro Juventute seinen Eltern weggenommen hat. Ich war eines der letzten. Meine Mutter ist Mariella Mehr. Schriftstellerin. Kämpferin. Mensch gewordene Wut. Sie hat ihr Trauma in ihren Texten verarbeitet. Sie hat geschrieben. Ich rede.»      

Basel, 20. Mai 2024

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